Gewalt dokumentieren

Gewalt dokumentieren

by Rosa Pons-Cerdà
by Golnar Abbasi

Diese Aufgabe geht von Überlegungen zum Themengebiet ‚Gewalt‘ aus, die Gewalt in einem größeren Kontext von Machtstrukturen verorten, welche sie bedingen und strukturieren. Dem Argument von Meg McLagan und Yates McKee folgend, dass Beschäftigung mit Politik eine Beschäftigung damit sein muss, was gesehen, wahrgenommen und gefühlt werden kann, werden in dieser Aufgabe Methoden der Aufzeichnung und Archivierung verwendet, um verschiedene Formen von Gewalt sichtbarer, greifbarer und spürbarer zu machen. Die Arbeit daran kann hinsichtlich des Umfangs und der Methoden unterschiedlich ausgeprägt sein.

In dieser Aufgabe gehen wir von Überlegungen zum Thema Gewalt in einem breiten Kontext von Machtverhältnissen aus. Gewalt existiert in vielen Formen und Räumen, wobei ihre Sichtbarkeit variiert. Einerseits haben wir vielleicht alle schon Gewalt erfahren, andererseits nehmen wir viele Fälle von Gewaltausübung, die für uns unsichtbar sind, kaum oder gar nicht wahr. Mit Gewalt dokumentieren versuchen wir, in diese Problematik einzutauchen und ein sorgsames, anschauliches Verständnis von Gewalt und deren Komplexität zu erarbeiten. Wir gehen vielschichtig an das Thema heran: Wir beziehen den Umstand, dass bestimmte Arten des In-der-Welt-Seins gewaltvoll über andere gestellt werden, ebenso mit ein wie das Silencen mancher Wissensformen und kapitalistische Logiken und Prozesse; in der Dimension von nichtmenschlichen und menschlichen Körpern bis zur Dimension von Staaten oder des ganzen Planeten, von Alltagsbegegnungen bis zu wirtschaftlichen Strukturen.

Der Fokus liegt in diesem Projekt auf Aufzeichnen als übergeordnete Methode, mit der Gewalt sichtbar und greifbar gemacht wird. Aufzeichnen als Methode kann vielfältig als eine Praxis des Sammelns, Anordnens, Kontextualisierens und Öffentlich-Machens von Informationen verstanden werden, wobei die Information visuell, textbasiert, akustisch oder verkörpert vermittelt werden kann. Aufzeichnen bedeutet in diesem Sinn Dokumentieren, Archivieren, Zeichnen, Transkribieren, Field-Recordings anfertigen und Karten erstellen, um nur einige Praxen zu nennen.

AUFBAU DER FINALEN AUFGABE:
Die Aufgabe besteht aus drei Teilen, a) einer Gruppenaufgabe, b) einer Schreibaufgabe und c) gemeinsamer Veröffentlichung

  • a) Gruppenarbeit
    Sucht euch als Gruppe ein spezielles Thema, das Gewalt betrifft, das ihr untersuchen wollt. Jedes Gruppenmitglied bringt einen persönlichen Zugang, individuelle Fähigkeiten und Tools mit, um Fälle von Gewalt und ihre Spuren aufzuzeichnen. Sammelt visuelles und andere Material, das euch interessiert; dieses kann selbst erstellt oder gefunden sein. Ordnet diese Aufzeichnungen und legt als Gruppe ein Archiv an. Nach und nach könnt ihr umsortieren, die Sammlung erweitern und bearbeiten und neue Verbindungen finden. Verwendet Annotationen, stellt Fragen und vergrößert euer Archiv.Denkt in weiterer Folge darüber nach, wie eure Arbeit einem Publikum vermittelt werden könnte. Welche Medien, welche Form und welches räumliche Arrangement wären dafür notwendig? Wie könntet ihr die Verbindungen und die Vielschichtigkeit von Gewaltformen, die ihr erforscht habt, verständlich darstellen? Das über Monate entstehende Archiv soll hinsichtlich dessen auch Unterhaltungen und Tutorials beinhalten.Das finale Archiv wird von allen Gruppenmitgliedern zusammengetragen und dann dazu verwendet, um die bezüglich der Gestaltung freie Abschlussarbeit zu produzieren.
    * Um im Kollektiv ein zugängliches Archiv zu erarbeiten, legen die Studierenden ein Hotglue-Startseite an, die Links zu allen Gruppen-Projekten und Gruppen-Archiven enthält. Dieser Prozess ist wiederum eine Übung in Dokumentation, Kommunikation und Arbeiten im Kollektiv.
  • b) Schreibaufgabe (einzeln + Gruppe)
    Die Schreibaufgabe besteht aus zwei Teilen: 1) ein Archiv/eine Zusammenstellung individueller Schreibaufgabentexte und 2) eine Kurzdarstellung des Abschlussprojekts

    • B1) Die Studierenden erarbeiten allein eine Reihe an thematisch passenden Recherche- und Schreibaufgaben. In jeder Einheit schreiben sie eine 300 Wörter lange Reflexion zu einigen als Fragen formulierten Inputs. Für die finale Sammlung am Ende des Projekts tragen die Studierenden-Gruppen die Reflexionen und Gedankenwelten zu einem Archiv zusammen. Dieses Archiv sollte auf der Hotglue-Seite aufbereitet werden. Die Formatierung und Gestaltung der Archive sowie die Art und Weise ihrer Präsentation stehen den Studierenden dabei frei.
      * Wird die Aufgabe im Präsenzunterricht durchgeführt, sollten die Studierenden im weitesten Sinne physisch ‚publizieren‘. Wir hielten beispielsweise ein Seminar zum Thema ‚Strangeness and Otherness‘, im Zuge dessen den Studierenden mit Texten von Sara Ahmed (siehe Literaturliste weiter unten) in Konzeptualisierungen von ‚encounter‘ und ‚strangeness‘ vermittelt wurden. Wir forderten die Studierenden dann dazu auf, eine Reihe an Fragen und Inputs zu reflektieren, zum Beispiel:

      • Was hast du gelernt?
      • Was sind deine Gedanken zum Begriff ‚the imagined‘ in Bezug auf Macht und Normativität?
      • Was sind deine Gedanken zum Begriff ‚encounter‘ in deinem Gruppenprojekt?
      • Was sind deine Gedanken zum Begriff ‚strangeness‘? Welche Beispiele fielen euch ein? Welche Beispiele des Gruppenprojekts sind für das Konzept von ‚strangeness‘ relevant?
    • B2) Die Studierenden sollen eine Kurzdarstellung ihres Abschlussprojektes verfassen. Dieser Text ist dann Teil der Besuchs-Erfahrung für Personen, die das Archiv aufrufen. Die Kurzdarstellung soll als Abstract und als kurze Einführung in das Archiv funktionieren. Sie muss also die zentralen Charakteristika des Archivs konsistent und präzise darlegen. Achtet darauf, dass sie Folgendes enthält: Titel, Datum, Name der Autor:innen, Kolophon und Bibliografie.
  • c) Gemeinsame Veröffentlichung (ganze Gruppe)
    Alle Studierenden erarbeiten gemeinsam eine (digitale) Ausstellung der Arbeiten, um die Archive mit der Öffentlichkeit zu teilen und sichtbar zu machen. Dieser Teil der Aufgabe erfordert von allen Studierenden Koordinations- und Organisationsfähigkeiten, das kollektive Treffen von Entscheidungen, das Aufteilen von logistischer Arbeit und weitere Handlungen.
  • Ahmed, S. (2000). Strange Encounters: Embodied Others in Post-Coloniality. Psychology Press.
  • Bouteldja, H. (2016). Whites, Jews and Us. South Pasadena: Semiotext (e).
  • Butler, J. (2011). Bodies that Matter: On the Discursive Limits of Sex. Taylor & Francis.
  • Butler, J. (2006). Precarious Life: The Powers of Mourning and Violence. Verso Books.
  • Butler, J. (2020). The Force of Nonviolence: The Ethical in the Political. Verso Books.
  • Fanon, F. (2007). The Wretched of the Earth. Grove/Atlantic, Inc.
  • Han, B.-C. (2017). Psycho-Politics: Neoliberalism and New Technologies of Power. Verso Books.
  • Joler, V., Pasquinelli M. (2020). The Nooscope Manifested. AI as Instrument of Knowledge Extractivism.
    https://nooscope.ai/
  • Koopman, S. (2008). Imperialism within: Can the Master’s Tools Bring Down the Empire? ACME: An International Journal for Critical Geographies, 7(2), 283-307.
  • Mbembé, J. A., & Meintjes, L. (2003). Necropolitics. Duke University Press.
  • O’Neal, C. (2016). Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. Crown.
  • Said, E. W. (1979). Orientalism. Vintage.
  • Sontag, S. (2003). Regarding the Pain of Others. Diogène, (1), 127-139.
  • Steyerl, H. (2010). “A Thing Like You and Me”.
    http://worker01.e-flux.com/pdf/article_134.pdf
  • Tsing, A. (2017). The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins. Princeton University Press.
  • Wekker, G. (2016). White Innocence: Paradoxes of Colonialism and Race. Duke University Press.
Eine dunkle, verschwommene Fotografie von von hinten fotografiertem Publikum.
The violence of recording

Recording Violence © 2019 by Golnar Abbasi and Rosa Pons-Cerdà is licensed under CC BY-SA 4.0

Diese Aufgabe wurde von Rosa Pons-Cerdà und Golnar Abbasi für Bachelorstudierende im dritten Jahr im ‚Powerplay‘-Programm der Willem de Kooning Academie in Rotterdam entwickelt. Verschiedene Versionen und Variationen davon wurden gemeinsam mit Sami Hammana, Javier LLoret Pardo, Seecum Cheung, Sarmad Platform und Neverland Cinema erarbeitet.

Prior Knowledge and Preparation
Kenntnisse der Geschichte und des Diskurses von Gewalt, Kolonialisierung und Anthropozentrismus sind eine wichtige Voraussetzung. Um die Studierenden gut anzuleiten, ist es außerdem sehr wichtig, verschiedene Diskurse zum Thema Archivierung Bescheid zu wissen und diese verständlich machen zu können.

Accessibility:
Assistance for Learners
Die Aufgabe kann sowohl in Präsenz als auch online durchgeführt werden, beides hat gut funktioniert.

Online-Tools wie Hotglue, Zoom, Teams oder andere ermöglichen bessere Zugänglichkeit für manche Studierende, etwa marginalisierten Gruppen wie Menschen mit Behinderungen, sehr introvertierten und schüchternen Studierenden oder Studierenden mit Sozialphobie.

Da die Aufgabe doch ein gewisses Maß an Verwundbarkeit mit sich bringen könnte, sollten sowohl Lehrperson als auch Studierende darauf achten, dass sie sich wohlfühlen und gemeinsam einen Raum schaffen, in dem sich alle sicher einander öffnen können.

Additional Tools
Zum Archivieren der entstehenden Arbeiten wird in dieser Aufgabe hauptsächlich die Plattform Hotglue verwendet (www.hotglue.me). Studierende können selbstverständlich auch selbst gewählte Medien und Tools verwenden, abhängig von ihren bereits gesammelten Erfahrungen und Perspektiven. Bis jetzt arbeiteten die Studierenden (online sowie in Präsenz) etwa mit 3D, Augmented Reality, Video und Animation, Gamedesign, Audioaufnahmen und Zeichenwerkzeugen.
Dieser Kurs wurde bereits sowohl online via Teams und Zoom als auch in Präsenz durchgeführt.