Geist, Körper und Stimme

Geist, Körper und Stimme
Mit Gesten unterwegs

by Gabriel Fontana
by Vivien Tauchmann

Dieser Workshop untersucht vom Standpunkt des Embodiments (kurz gesagt, dem Verständnis von Bewusstsein und Denken als verkörpert), wie das Design von öffentlichen Verkehrsmitteln unsere Bewegungsfreiheit formt und bestimmte Normen und Ideologien reproduziert. Mittels einer Reihe an ‚Deep Listening‘-Übungen, performativen Handlungen und Reflektionen werden in Mit Gesten unterwegs dabei die Auswirkungen von Grenzen und Begrenzungen als materielle und konzeptuelle Realitäten untersucht.

Wie werden Norm- und Werte-Systeme durch die Gestaltung von öffentlichen Verkehrsmitteln realisiert und reproduziert? Inwiefern fördert oder verringert ein Objekt unsere Bewegungsfreiheit?

In diesem Workshop werden die Objekte und Räume, die strukturieren, wie wir uns im öffentlichen Verkehr fortbewegen, hinterfragt und neu gedacht. Die Studierenden beobachten, analysieren und reflektieren eigene und andere Erfahrungen im Hinblick auf die Interaktion von Körpern und dem Raum.

Geist, Körper und Stimme: Mit Gesten unterwegs zielt darauf ab, durch eine intersektionale Herangehensweise verschiedene Auffassungen von Raum zu vermitteln und über diese Choreografien und Eigenschaften dieses Raums sowie soziale und politische Auswirkungen davon nachzudenken. Zu diesem Zweck sind die Studierenden dazu aufgefordert, ihren eigenen Körper als Forschungs-Tool zu verwenden, und so mit spielerischen Mitteln, dem Konzept des Embodiments und Reenactment von (teilweise ungeschriebenen) sozialen Regeln und Sozialverhalten in der Öffentlichkeit auch als Inszenierung zu verstehen und erkunden.

In diesem Workshop wird darauf geachtet, Räume stets als Ergebnis von genauer Planung zu begreifen, die manche Sozialbeziehungen fördert und andere ausschließt, und dabei Macht ausübt. Es sollten dementsprechend Themen wie Gender, Race, Klassenprivilegien, Queerness und Inklusion/Exklusion diskutiert werden.

Die folgenden Aufgabenstellungen sind dafür gedacht, kollektiv durchgeführt zu werden: Die Aufgaben A1, A2 und A3 sind gemeinsame Übungen, die die ganze Gruppe gemeinsam machen kann. Die Aufgaben A4 und A5 sollten in kleinen Gruppen (idealerweise Dreiergruppen) gemacht werden.

  • A1. Einführungsvideo
    Link zum Video:
    https://vimeo.com/614306108
    Das Video veranschaulicht ein zehnminütiges Skript (und dessen Aufführung), das gut in das Thema des Workshops einführt, indem es Beispiele für potenzielle Fallstudien liefert, mit denen sich die Studierenden beschäftigen könnten. Im Video findet ein Gespräch zwischen zwei Personen statt, die Studierenden könnten das Video also ohne Ton abspielen und die Untertitel laut lesen, um so den Dialog aktiv zu sprechen. Diese Übung ist somit ein Beispiel dafür, wie Text performativ aktiviert werden kann.
  • A2. ‚Deep Listening’-Übung
    Link zum 12-minütigen Sound-Stück:
    https://soundcloud.com/gabriel-fontana-526899133/public-transport-4wav-1
    Diese Hör-Übung lädt die Studierenden zur Reflexion über ihre Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein. Die Studierenden tauschen sich darüber aus und erkennen Unterschiede zwischen den eigenen Erfahrungen und jenen der anderen, sei es bedingt durch Identität, Körper, Privilegien etc.
    • Was ist ‚Deep Listening‘?
      Der Begriff ‚Deep Listening‘ wurde 1989 von der Komponistin Pauline Oliveros geprägt und beschreibt eine Praxis der radikalen Achtsamkeit. Nach Oliveros ist Zuhören nicht dasselbe wie Hören und Hören nicht dasselbe wie Zuhören. Hören ist der körperliche Vorgang, der Wahrnehmung ermöglicht. Zuhören hingegen heißt, dem, was akustisch wahrgenommen wird, eine Bedeutung zuzuschreiben. ‚Deep Listening‘ kommt also davon, dem eigenen Zuhören zuzuhören und seine Auswirkungen auf den Körper zu erkennen. Achte während des Zuhörens auf die Eindrücke und Auswirkungen, die der Sound in deinem Körper hat. Sei achtsam, den Sound in deinem Körper zu spüren.
    • Orientiere dich während des Zuhörens an folgenden Fragen:
      • Welche Gefühle löst die Soundscape in dir aus?
      • Welche Elemente erkennst du?
      • Welcher Sound erregt deine Aufmerksamkeit besonders? Wie? Und warum?
      • Gibt es Momente, in denen du nicht zuhörst?
      • Hast du einen bestimmten Gedanken? Warum?
      • Erinnert dich etwas an eine bestimmte Situation, die du erlebt hast?
      • Erkennst du dominante Stimmen?
  • A3. Sitz-Choreografie
    Link zum 9-minütigen Video:
    https://vimeo.com/614315998
    Diese Übung dient dazu, zu erforschen, wie Körperfunktionen als Archive für Erinnerungen funktionieren, politische wie persönliche, kollektive wie individuelle. Es soll hinterfragt werden, wie wir Gesten und Sitzpositionen Bedeutung zuschreiben, zum Beispiel bei Manspreading in der Öffentlichkeit.Die Studierenden sollen die verschiedenen Sitzpositionen, die die Person in dem Video performt, unmittelbar wiederholen und imitieren. Danach folgt eine Diskussion, in der die Studierenden ihre Beobachtungen, Erfahrungen und Verständnisse von Verhaltensgesten und öffentlichem Raum teilen.
    • Hier einige Fragen für die Diskussion:
      • Sind bei diesen Sitzpositionen welche dabei, die du im täglichen Leben selbst einnimmst?
      • Fühlen sich manche der Sitzpositionen für dich ungewöhnlich an?
      • Denkst du bei ihnen an bestimmte Körper?
      • Wie beeinflussen manche dieser Gesten die Anordnung der Körper im Raum?
      • Veränderst du deine Sitzposition je nach dem Raum, in dem du sitzt?
  • A4. Gesten-Übung
    In dieser Aufgabe werden bestimmte Geschichtsschreibungen über Körper und die Art und Weise, wie Machtstrukturen in choreografische Zeichen eingeschrieben sind, untersucht. Gestikulieren und Gesten, von dem lateinischen ‚gestus‘ und ‚gerere‘ abstammend, meint den Körper so zur Schau zu tragen, dass Bedeutung übermittelt wird. Gesten können unbewusst und ohne explizite Absicht vollzogen werden, aber auch mimetisch und sprachlich sein. Gesten drücken aus, machen aber auch Eindruck auf uns. Als mimetische Wesen eignen wir uns bewusst und unbewusst stets Information aus unserem sozialen, räumlichen und kulturellen Umfeld an.
    • SCHRITT 1:
      Jede Gruppe wählt eine bestimmte Geste oder Körperposition aus, die im öffentlichen Verkehr vorkommt (z. B. Schlange stehen, Gepäck tragen, ein Ticket lösen, am Smartphone tippen, bestimmte Sitzpositionen etc.). Innerhalb der Gruppen sollte diskutiert werden, welche Geste großes Potenzial hat, weiter erforscht zu werden, und dann sollte zur gewählten Geste hinsichtlich sozialer Implikationen, politischer Symbolik, Kulturgeschichte und ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit recherchiert werden. Die Gruppen sollten dann in 5-minütigen Präsentationen einen erzählerisch-historischen Überblick über diese Geste vorstellen. Haltet dies vorwiegend visuell, arbeitet nur minimal mit Text (Titel und Bildunterschriften).
    • Fragen, die zu untersuchen sind:
      • Wo und wann kommt diese Geste vor?
      • Was ist die Geschichte dieser Geste? Hat sie sich im Lauf der Geschichte verändert?
      • Welche kulturelle Bedeutung hat die Geste? Hat sich diese verändert?
      • In welchen anderen Kontexten kommt diese Geste vor?
      • Wie ist die Geste von einem Körper (menschlich, mehr-als-menschlich, maschinell) zum nächsten gereist?
      • Inwiefern hat die Geste je nach dem Körper (Alter, Fähigkeiten, Gender, Race, Klasse), der sie performt, verschiedene Bedeutungen?
    • SCHRITT 2:
      Stellt ein 1-minütiges Video her, das das Performen eure Geste auf 10 verschiedene Arten zeigt. Hier einige Ideen:

      • sehr schnell / sehr langsam
      • sehr groß / sehr klein
      • interagieren mit einer anderen Person
      •  rückwärts
      •  sanft/aggressiv
      • interagieren mit einem mehr-als-menschlichem Körper (Tiere, Pflanzen, Objekte)
      • Wiederholung/Loop
  • A5. Objekt-Embodiment
    Diese Aufgabe hilft den Studierenden dabei zu verstehen, wie Machtstrukturen in Design-Objekte eingeschrieben sind. Außerdem werden die Studierenden dazu angeregt, Design aus einer neuen Perspektive zu betrachten: Welche Haltung hat das Objekt, welche Körpersprache? Und welche Bedeutung vermittelt es?

    • Anleitung:
      Wählt ein Objekt oder ein System aus, das sich im öffentlichen Verkehr (oder im öffentlichen Raum überhaupt) finden lässt, welches Bewegungsfreiheit entweder fördert oder einschränkt. Entwickelt eine Embodiment-Sequenz (ein einminütiges Video) zu diesem Objekt (Fokus auf Embodiment seiner Mechanismen und seiner Funktionalität, also darauf, wie diese in seiner‚körperlichen‘ Erscheinung eingeschrieben ist).
Ein Diagramm, das ein Skript für eine Choreografie in einer Bahnstation darstellt.
Gestures in Transit visuals

Gestures in Transit visuals © 2021 by Gabriel Fontana & Vivien Tauchmann is licensed with CC by 4.0

Gabriel Fontana und Vivien Tauchmann.

Die Aufgabe wurde hier getestet:
Sandberg Instituut, Amsterdam (NL) mit Design-Studierenden im Masterstudium, Februar 2021.
Willem De Kooning Academie, Rotterdam, (NL) mit Kunst- und Design-Studierenden im Bachelorstudium, November 2021. Social Aspects, Nijmegen, 2020.

Author’s Encouragement
Die Aufgabe präsentiert den Studierenden Beispiele dafür, wie Design Machtstrukturen reproduziert. Design als Disziplin wird kritisch betrachtet und die Studierenden denken über ihre gesellschaftliche Verantwortung als Design- oder Kunstschaffende nach. Zusätzlich werden spielerisch Embodiment und Reenactment von (teilweise ungeschriebenen) sozialen Regeln verwendet, um Sozialverhalten in der Öffentlichkeit als Inszenierung begreiflich zu machen und zu untersuchen.

Prior Knowledge and Preparation
Es ist ratsam, als ersten Vorbereitungsschritt das Einführungsvideo zu schauen. Das Video führt gut in das Thema Bewegungsfreiheit ein und stellt relevante Fallstudien vor, die die Studierenden im Laufe der Aufgabe dekonstruieren können. Im Vorfeld die Texte aus der Literaturliste zu lesen, ist ebenfalls empfehlenswert.

Accessibility:
Assistance for Learners
Sämtliche Aufgaben sind für diverse Körper geeignet.

Additional Tools

  • Vimeo
  • Soundcloud
  • Für diese Aufgabe braucht es keinen bestimmten Raum. Mit Online-Meeting-Tools wie Microsoft Teams oder Zoom kann sie auch als Distanzunterricht durchgeführt werden. Auf jeden Fall braucht es jedoch die beiden Online-Plattformen Vimeo und Soundcloud.