Reparieren als eine Praxis der Interdependenz
Reparieren als eine Praxis der Interdependenz
Reparieren meint in dieser Aufgabe speziell die Geste, beschädigte Textilien zu kleben, zu nähen, zu (ver)binden. Die Fäden der Textilien können durch Gewalt zerrissen worden sein, sei diese psychologisch, viral, emotional, physisch, politisch, rassistisch, institutionell oder umweltbezogen. Die Teilnehmenden denken hier ausgehend von dem Begriff des Risses, des Bruchs, über metaphorisches Reparieren nach, während sie beschädigte Textilien wieder instand setzen. In dieser meditativen Umgebung können sie Reparieren als eine Methode und Metapher dafür verstehen, unterbrochene Verbindungen zu ihren eigenen Sinnen und ihrem eigenen Körper, zu Freund:innen und Familie, sowie zum Materiellen, Gesellschaftlichen oder Ökologischen wieder zusammenzuknüpfen.
Description
Reparieren wird hier als eine verkörperte Praxis des Wieder-Zusammennähens zu Bruch gegangener Bündnisse verstanden, die über Jahrhunderte hinweg durch, wie es bell hooks beschreibt, „imperialist, white supremacist, capitalist patriarchy“ auseinandergerissen wurden.
Diese Beschreibung evoziert eine Realität ineinandergreifender Strukturen der Unterdrückung, die sich in unserer Weltsicht festgesetzt haben und den Glauben an falsche Dualismen und Hierarchien wie Vernunft/Emotion, männlich/weiblich, männlich/divers, Wissenschaft/Intuition, Design/Handwerk, westlich/nicht-westlich, öffentlich/privat, Abstraktion/gelebte Erfahrung etc. weitertragen. Wie viele andere Institutionen auch haben Kunst- und Designausbildungsstätten diese Dualitäten aufrechterhalten und befördert und die herrschenden Strukturen als überlegene, institutionelle Formen des Wissens behandelt, während jene in der Minderheit als unterlegen betrachtet worden sind. Wir werden, indem wir Methoden und Aktivitäten zur Reflextion über solche Brüche anwenden, gemeinsam erforschen, was es bedeutet, sie metaphorisch und tatsächlich zu reparieren. In diesem Kontext kann Reparieren ebenfalls bedeuteten, dass durch das ‚Zusammensetzen‘ individueller Praxen kollektive Praxen entstehen können.
Tasks and specific work steps
- A1 Taoistische Gesichtswäsche
- In dieser Übung verwenden wir die Hände, um unsere Gesichtsmuskeln zu aktiveren, mit Bewegungen rund um die Augen, Nase, Mund, Stirn, Ohren, Kopfrückseite sowie den Halsbereich.
Die taoistische Gesichtswäsche ist eine einfache Übung, die die Körper der Teilnehmenden beruhigt, entspannt und in das Universum der Sinne eintreten lässt. Sie ist hervorragend als Vorbereitungsübung geeignet, die das Bewusstsein vom Gehirn aus in den ganzen Körper verteilt, indem sie laute Gedankenströme verstummen lässt. Die Übung stammt Pauline Oliveros’ Buch Deep Listening: A Composer’s Sound Practice und eignet sich als Übergang zu einer Diskussion oder der Übung (A2) zum sensorischen ‚Mapping‘. - Dauer: 30 Minuten
- In dieser Übung verwenden wir die Hände, um unsere Gesichtsmuskeln zu aktiveren, mit Bewegungen rund um die Augen, Nase, Mund, Stirn, Ohren, Kopfrückseite sowie den Halsbereich.
- A2 Sensorisches ‚Mapping‘
- Diese Übung kann in jeder beliebigen sicheren Umgebung stattfinden. Beispielsweise ein botanischer Garten oder vergleichbare Orte eignen sich gut, da sie einen sicheren, ruhigen Raum bieten, um die sensorischen Universen aus Geruch, Sound, Berührungen und Geschmack zu entdecken.
Die Teilnehmenden finden sich zu Paaren zusammen; einer Person werden die Augen verbunden. Die sehende Person führt die Person, die nichts sieht, zu Dingen, von denen sie denkt, dass es interessant wäre, sie zu riechen, zu hören, zu berühren oder zu schmecken. Nach zehn Minuten tauschen die beiden Teilnehmenden und wiederholen die Übung.
Sensorisches ‚Mapping‘ ist eine sehr effektive Übung. Schlicht durch das Deaktivieren des Sehsinns eröffnen sich andere sensorische Universen. Einige Teilnehmende haben die Erfahrung als ‚Erwachen‘ beschrieben und ironischerweise angegeben, dass sie sich lange nicht mehr so lebendig gefühlt haben wie nach diesem Abschalten ihres primären Wahrnehmungsapparats. Da die Übung auch Ängste hervorrufen kann, ist es sehr wichtig, der anderen Person vertrauen zu lernen. Was Teilnehmende auch oft berichten, ist, dass die Übung Ruhe und gesteigerte Fähigkeiten des (Zu)Hörens in ihnen bewirkt, und in der Nachwirkung sogar die Rezeption theoretischer Texte verbessert. Kurz, die Übung ‚repariert‘ – durch eine Verschiebung weg vom Sehen als primärem Navigations-Sinn – die Verbindung zum eigenen Körper und es baut sich durch sie gegenseitiges Vertrauen auf. - Dauer: ± 1 Stunde
- Diese Übung kann in jeder beliebigen sicheren Umgebung stattfinden. Beispielsweise ein botanischer Garten oder vergleichbare Orte eignen sich gut, da sie einen sicheren, ruhigen Raum bieten, um die sensorischen Universen aus Geruch, Sound, Berührungen und Geschmack zu entdecken.
- A3 Reparieren von beschädigter Kleidung der Kolleg:innen
- Die Teilnehmenden bringen beschädigte Kleidungsstücke oder andere Textilien mit. In Paare aufgeteilt, tauschen sie diese untereinander aus und reparieren jeweils das andere Textilstück. Dabei erzählen sie einander, wie es zu den Schäden kam und welche Art der Reparatur sie sich wünschen würden.
In dieser Übung geht es darum, Geschichten über Schaden und Care miteinander zu teilen. Ausgehend vom sozialen Aspekt von Kleidungsstücken ergibt sich ein experimentelles Gespräch, das heilend wirken kann. Erforderlich ist dafür, dass aktiv zugehört wird und einander Vertrauen geschenkt wird, und dass versucht wird, die Wünsche der anderen Person so gut wie möglich zu erfüllen. Handwerkliches Arbeiten wird dabei zu einer Art von verkörpertem Wissen, das sich still und meditativ entfaltet. - Dauer: 1–2 Stunden, je nach technischen Fähigkeiten und Gruppengröße
- Die Teilnehmenden bringen beschädigte Kleidungsstücke oder andere Textilien mit. In Paare aufgeteilt, tauschen sie diese untereinander aus und reparieren jeweils das andere Textilstück. Dabei erzählen sie einander, wie es zu den Schäden kam und welche Art der Reparatur sie sich wünschen würden.
- A4 Reparatur-Reise
- Die Teilnehmenden begeben sich auf eine gedankliche Reise rund um Brüche, Risse und Schäden und ihrer Reparatur. Sie können sich dabei vielfältig mit dem Thema auseinandersetzen, die Beschädigungen können körperlicher, emotionaler, spiritueller, politischer oder sensorischer Natur sein, sich auf Identitäten oder Natur und Umwelt beziehen. Die Reparaturmethoden stehen den Teilnehmenden frei, sollten sich jedoch stets symbolisch auf diese ‚Reparatur-Reise‘ beziehen. Es kann wortwörtlich oder metaphorisch repariert werden, solange es sich dafür eignet, bestimmte Bruchlinien zu beheben, kann genäht, gestrickt, ein Ritual erarbeitet, ein Spiel designt, oder ein Gespräch geführt werden. Die Teilnehmenden sollen dabei ermutigt werden, Reparieren nicht nur als das Lösen eines Problems zu verstehen, sondern auch als Mittel, um mögliche Zukünfte zu erschaffen. Denn Reparieren impliziert stets ein Machen auf Basis von etwas schon Vorhandenem. Aufgrund dessen, dass natürliche Ressourcen immer knapper werden, ist es dabei notwendig, auf Nachhaltigkeit und verantwortungsvollen Verbrauch zu achten. Durch die meditative Ebene, die im Zuge der sich wiederholenden Bewegungsabläufe entsteht, ergeben sich wie von selbst neue Forschungsräume, die für gewöhnlich kaum erschlossen werden. Sei es das Bewusstsein für die eigenen Sinne, auf Gegenseitigkeit beruhende Care-Arbeit oder einfach nur das nähere Kennenlernen der Mitmenschen. Auch das Gemeinschaftsgefühl kann durch diese Praxis des Reparierens gestärkt werden.
Diese Aufgabe ermutigt die Teilnehmenden dazu, Reparieren als produktives Machen zu begreifen. Sie kann Teilnehmenden auch die Möglichkeit bieten, bisher nicht positiv abgeschlossene Aufgaben zu einem guten Ende zu bringen. Andere genießen vielleicht einfach das befreiende Gefühl des Machens, bei dem keine genaue oder große formale Erwartung mitschwingt. Oft wird bekanntlich davon gesprochen, dass Kreativität, Freude und Spielerisches angesichts unseres auf Perfektion und Professionalität fokussierten gesellschaftlichen Umfelds verloren gehen. Ebenfalls können sich die Teilnehmenden im Kontext der Aufgabe damit beschäftigen, welche Rolle mögliche Brüche und Schäden bezüglich kultureller und Gender-Identität, Familie und mentaler Gesundheit für ihr eigenen Lernerfahrungen innerhalb von Bildungs-Institutionen spielen. - Dauer: 3 Wochen
- Die Teilnehmenden begeben sich auf eine gedankliche Reise rund um Brüche, Risse und Schäden und ihrer Reparatur. Sie können sich dabei vielfältig mit dem Thema auseinandersetzen, die Beschädigungen können körperlicher, emotionaler, spiritueller, politischer oder sensorischer Natur sein, sich auf Identitäten oder Natur und Umwelt beziehen. Die Reparaturmethoden stehen den Teilnehmenden frei, sollten sich jedoch stets symbolisch auf diese ‚Reparatur-Reise‘ beziehen. Es kann wortwörtlich oder metaphorisch repariert werden, solange es sich dafür eignet, bestimmte Bruchlinien zu beheben, kann genäht, gestrickt, ein Ritual erarbeitet, ein Spiel designt, oder ein Gespräch geführt werden. Die Teilnehmenden sollen dabei ermutigt werden, Reparieren nicht nur als das Lösen eines Problems zu verstehen, sondern auch als Mittel, um mögliche Zukünfte zu erschaffen. Denn Reparieren impliziert stets ein Machen auf Basis von etwas schon Vorhandenem. Aufgrund dessen, dass natürliche Ressourcen immer knapper werden, ist es dabei notwendig, auf Nachhaltigkeit und verantwortungsvollen Verbrauch zu achten. Durch die meditative Ebene, die im Zuge der sich wiederholenden Bewegungsabläufe entsteht, ergeben sich wie von selbst neue Forschungsräume, die für gewöhnlich kaum erschlossen werden. Sei es das Bewusstsein für die eigenen Sinne, auf Gegenseitigkeit beruhende Care-Arbeit oder einfach nur das nähere Kennenlernen der Mitmenschen. Auch das Gemeinschaftsgefühl kann durch diese Praxis des Reparierens gestärkt werden.
Sources and References
- Women, Native, Other von Trinh T Minh-Ha
Feministische Schriftstellerin, Filmemacherin, Theoretikerin aus der ehemals sogenannten ‚dritten Welt‘, die an der Schnittstelle von Gender, Klasse und Race forscht. - Minor Feelings von Cathy Park Hong
Eine Non-Fiction-Arbeit der Lyrikerin. Der Text wird als ein grundlegender Text für das Nachdenken über ‚Asiatisch–Sein’ angesehen. - On Earth We’re Briefly Gorgeous von Ocean Vuong
Poetische Non-Fiction. Die zärtliche und einzigartige Sprache des Autors führt uns in seine Erfahrungen als queeres, migrantisches Kind einer Kriegsgeflüchteten. - Decolonisation as Care von Uzma Z. Rizvi
Ein reflektierter Essay zu den Themen Care, Reparatur und der Verlangsamung der Zeit. - Teaching to Transgress von bell hooks
Ein Klassiker über das Lehren. Die von hooks in der Ersten Person gehaltene Sprache ist stark, unmittelbar und fesselnd. - Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective von Donna Haraway
Zur Verteidigung der situierten Subjektivität gegenüber einer abstrakten Objektivität. - Frayed: Art and Textile Politics von Julia Bryan-Wilson
Eine Arbeit über queer-feministische Textilpraktiken mit Beispielen vorwiegend aus Nord- und Südamerika. - Sick Women Theory von Johanna Hevda
Ein einflussreicher Essay über Krankheit und Queerness. - Deep Listening: A Composer’s Sound Practice von Pauline Oliveros
Ein praxisbezogener Guide zu Zuhören und Sound von der experimentellen Komponistin Pauline Oliveros. - Mending as a Practice of Interdependency von Amy Suo Wu
Ein persönlicher Essay, den ich basierend auf meinen Reflektionen über die Reparatur-Sitzungen verfasst habe.
https://www.academia.edu/62612651/Situationer_Workbook_Cookbook
Images/Examples
Additional Information
Prior Knowledge and Preparation
Dieses Projekt entstand ausgehend von meiner persönlichen Erfahrung, etwas reparieren zu müssen, worauf ich in dem Essay ‘Mending as a Practice of Interdependency’ näher eingehe.
Ein wichtiges Thema ist hier das Konzept ‚embodied knowledge‘, des verkörperten Wissens, das beschreibt, wie wir auf das Körperliche angewiesen sind, um unser Leben zu organisieren: Ohne Körper wüssten wir weder, wo oder was wir sind, was wir lernen oder wie, noch könnten wir unsere Gefühle, Erfahrungen und Befindlichkeiten kommunizieren. Diese Position ist eine radikale Verschiebung weg vom Standard in Bildungskontexten, der Lernen fest mit dem Verstand verknüpft und vom Körper losgelöst behandelt. Von einer feministischen und dekolonialen Perspektive aus betrachtet, ist die Rückbeziehung auf das Körperliche ein widerständiger Akt gegen die akademische Norm der rationalen Abstraktion, welche als institutionelles Erbe der Aufklärung betrachtet werden kann. Deshalb sollen die Teilnehmenden dort beginnen, wo auch ihre Sinne ihren Ursprung haben – in ihren Körpern – und darüber nachdenken, wie ihre Körper die Fähigkeiten des Wissens, Fühlens und Seins ermöglichen. Und darüber, wie dies unser Verständnis von und unseren Blick auf die eigenen Körper und die Körper anderer konstituiert.
Es kann hilfreich sein, sich mit der künstlerischen Praxis und den Arbeiten einiger Kunstschaffender vertraut zu machen, die dieses Projekt beeinflusst haben. Beispielsweise kann ich Yoko Onos ‘Mend piece‘, Lee Mingweis ‘Mending‘-Projekt, Liz Collins’ ‘The Walking Wounded‘ oder Michael Swaines ‘Free Mending Library‘ empfehlen. Manche Praxen beinhalten Kintisugi – die japanische Kunst der Keramikreparatur, die Praxis sichtbarer Reparaturarbeit. Außerdem ist es hilfreich, wenn die Lehrperson mit feministischer und kritischer Pädagogik vertraut ist. Auf der praktischen Ebene sind grundlegende Näh-Kenntnisse von Vorteil.
Accessibility:
Assistance for Learners
Die Aufgabe ist insofern niederschwellig, als sie offen für unterschiedlich gute Näh-Kenntnisse der Teilnehmenden ist. Als Methode kann sie auch für die Diskussion anderer Themen und andere reflektierende Aktivitäten verwendet werden.
Additional Tools
- Zoom
- Microsoft Teams
- Außer Devices für Distanzunterricht (Zoom, Microsoft Teams) werden keine Hardware oder Applikationen benötigt. Natürlich kann der Workshop auch offline stattfinden.